Kategorie: Chancen ergreifen

Hat Prokrastination auch etwas Gutes?

Warum neigen wir dazu, ständig alles aufzuschieben? Wie können wir die Prokrastination überwinden – und müssen wir das überhaupt? Wir sprechen über das Thema Prokrastination mit Albert Moukheiber, klinischem Psychologen, Doktor der kognitiven Neurowissenschaften und Autor des Buchs Fake Brain: Warum unser Gehirn uns Streiche spielt und wie wir es überlisten können.

23. Juni 2025 · 1 min Lesezeit

Designing your life
Natacha Picajkic

Wieso schieben wir so oft auf morgen, was wir auch heute erledigen könnten? Welche Mechanismen sind am Werk, wenn wir prokrastinieren? Nehmen Sie uns unser schlechtes Gewissen!

Prokrastination bedeutet zunächst, dass wir etwas unverhältnismäßig verlängern, das in aktuellen sozialwissenschaftlichen Theorien als „intention-action gap“ bzw. Intentions-Verhaltens-Lücke bezeichnet wird. Anders gesagt ist dies die Zeit zwischen der Absicht zu handeln und der Handlung selbst.

Während dieser (mehr oder weniger großen) Zeitspanne beschäftigt unser Gehirn sich mit drei Fragen: Wie hoch sind die Kosten für den Einstieg und die Aufrechterhaltung besagter Handlung und welche Belohnung erwartet uns, wenn wir sie ausführen? Jede der Antworten kann dazu führen, dass wir die Handlung beginnen oder aufschieben.

Betrachten wir als Erstes die Einstiegskosten: Stellen wir uns vor, ich will mich für eine neue Stelle bewerben oder eine Umschulung beginnen, aber ich kenne niemanden im neuen Büro oder in der Branche. Ich weiß nicht, welche Hilfe ich erhalten oder wo ich mich informieren kann. Die Aufgabe erscheint mir also unmöglich. Je weniger ich daran glaube, desto weiter werde ich sie vor mir herschieben.

Der nächste Punkt sind die Kosten für die Aufrechterhaltung: Ich habe ein volles E-Mail-Postfach und beginne, die Mails zu sortieren. Es ist relativ einfach, damit anzufangen, aber deutlich schwieriger dranzubleiben. Schließlich landen immer neue Mails in meinem Posteingang und „Inbox Zero“ ist immer noch ein weit entferntes Ziel.

Der letzte entscheidende Punkt ist die Belohnung. Je weiter diese in der Zukunft liegt und je später sie Früchte trägt, desto größer ist die Versuchung, Aktivitäten vorzuziehen, die uns eine unmittelbarere Belohnung bieten. Und das auch dann, wenn diese langfristig deutlich niedriger ist. Statt an der Präsentation für meinen Chef zu arbeiten, räume ich meinen Schreibtisch auf, sortiere meine Mails, gebe mir den Anschein, beschäftigt zu sein ...

Gibt es nicht auch externe Faktoren, die uns am Loslegen hindern?

Das soziale Umfeld oder Arbeitsumfeld, die uns zur Verfügung stehenden Mittel oder auch Stress sind weitere Faktoren, die zu den Ursachen von Prokrastination zählen können. Wenn ich beispielsweise überlege, mich für eine Stelle im Ausland zu bewerben, ist die Situation sehr unterschiedlich, je nachdem, ob es um eine Zweigstelle meines aktuellen Unternehmens geht oder nicht. Wenn ich auf einen Kollegen treffe, der das alles bereits vor mir gemacht hat und mir erzählt, welche Schwierigkeiten es gab, welche Fähigkeiten ich brauche und welche Projekte anstehen, sind die Einstiegskosten deutlich niedriger. Auch neue Aufgaben werden mir deutlich leichter fallen, wenn ich bereits beobachten konnte, wie meine Büronachbarin sie erledigt. Wenn ich aber niemanden habe, mit dem ich darüber sprechen kann, neige ich dazu, die Bewerbung aufzuschieben oder sogar nie in die Tat umzusetzen.

Menschen, die prokrastinieren, sind also nicht einfach nur faul?

Als Erstes müssen wir uns entspannen und uns bewusst machen: Jeder Mensch prokrastiniert. Wir unterscheiden uns nur darin, was wir prokrastinieren. Manche schieben die Steuererklärung auf, andere wiederum sportliche Aktivitäten undsoweiter. Prokrastination bedeutet nicht, nichts zu tun, sondern etwas anderes zu tun. Ganz wichtig ist dabei: Es handelt sich nie um einen mangelnden Willen oder um Faulheit. Wir haben bereits gesagt, dass Stress manchmal ein Auslöser sein kann: Wir erwarten, dass wir scheitern werden, etwa aus fehlendem Selbstvertrauen oder Perfektionismus (zwei Dinge, die häufig gleichzeitig auftreten), und vermeiden deshalb, uns der Situation auszusetzen. Noch schlimmer wird es, wenn unser Chef uns jedes Mal, wenn wir morgens ins Büro kommen, fragt, wie weit wir sind und ob wir bald fertig sind. Der Stress nimmt weiter zu und es entsteht ein Teufelskreis, der die Prokrastination noch verlängert. Dahinter steckt weder Faulheit noch können wir die so verbrachte Zeit genießen: Wir sind auf einer ständigen Gratwanderung, verspäten uns immer mehr und müssen mit einer permanenten Nervosität umgehen.

Gibt es Lösungen, um die Prokrastination zu überwinden und all diesen Stress verschwinden zu lassen?

Als ersten Schritt können wir unsere Aufgaben in einem Diagramm grafisch darstellen, um sie zu unterteilen. Auf einer Achse verorten wir die Aufgaben je nach ihrer Wichtigkeit, auf der anderen nach ihrer Dringlichkeit. Wenn wir ein langfristiges Ziel verfolgen, müssen wir Etappen planen: Checkpunkte, die wir abhaken können, und kurz- bis mittelfristige Zwischenziele. Sinnvoll ist eine To-do-Liste, auf der wir nach und nach abhaken, was wir schon erledigt haben. Durch diese Planung ist die Belohnung nicht mehr so weit weg und weniger vage (und es ist jedes Mal befriedigend, ein neues Kästchen abzuhaken). Auch das Endergebnis zu visualisieren hilft uns, langfristig zu denken.

Wir können uns außerdem selbst austricksen: Du hast beschlossen, Sport zu machen, aber wenn der Wecker klingelt, ist dein Bett viel zu bequem, um aufzustehen? Verabrede dich mit einem Freund! Du musst für einen Test oder eine berufliche Zertifizierung lernen? Tritt einer Arbeitsgruppe bei! Das erhöht nicht nur die Motivation, sondern ändert auch die Art der Belohnung: Es geht jetzt nicht mehr nur darum, den Test zu bestehen, sondern auch darum, Spaß bei der Arbeit in der Gruppe zu haben. Zuletzt noch ein Punkt, der vielleicht offensichtlich scheint: Wir sollten gelegentlich eine Pause von den sozialen Netzwerken nehmen, Push- und E-Mail-Benachrichtigungen deaktivieren und Musik ausschalten, um uns für einen vorher festgelegten Zeitraum (der sich nicht wie eine Ewigkeit anfühlen sollte) einen Konzentrationsschub zu geben.

Aber ist Prokrastination alles in allem denn überhaupt so schlimm?

Nein, sie kann sogar Vorteile haben. Zumindest dann, wenn wir uns bewusst dafür entscheiden. Eine öffentliche Präsentation, die du halten wirst, macht dir Angst? Verschieb deinen Stress auf morgen, oder anders gesagt: verurteile dich nicht als unfähig in einer Zukunft, die noch gar nicht stattgefunden hat. Du wirst später noch genug Zeit haben, Bilanz zu ziehen. So kannst du aus der Starre herausfinden. Außerdem kann Prokrastination eine sinnvolle Möglichkeit sein, uns zu entlasten. Das ist besonders beim Lernen sehr wichtig: Ist es besser, zehn Stunden pausenlos Tonleitern am Klavier zu üben, bis wir sie nicht mehr ertragen können, oder sollten wir nicht lieber in drei- bis vierstündigen Sitzungen üben und Pausen machen, in denen wir nachdenken oder etwas anderes tun? Diese Zeit ist unverzichtbar, um uns zu entspannen und zurückzuziehen. Am Ende dient sie unseren Zielen, denn sie erlaubt es uns, über unsere Absichten nachzudenken, bevor wir zur Tat schreiten.

Danke, Albert!

Zusammengefasst können wir also sagen: Wir dürfen gerne ein bisschen prokrastinieren, wir sollten über so einiges nachdenken und vor allem sollten wir auf das schlechte Gewissen verzichten.

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