HomepageDas Gen Z Lab"Der Fachkräftemangel ist meist hausgemacht und durchaus zu beheben“ – Job Coach Selma Kuyas im Interview

"Der Fachkräftemangel ist meist hausgemacht und durchaus zu beheben“ – Job Coach Selma Kuyas im Interview

  • Freitag, 30. September 2022
  • Svenja Rausch

Die Rekrutierungslage wird sich für Arbeitgeber weiterhin verschärfen, solange keine tiefgreifende Veränderung entlang der Candidate Journey stattfindet, sagt Selma Kuyas.

Selma Kuyas Portraitfoto

Die Rekrutierungslage wird sich für Arbeitgeber weiterhin verschärfen, solange keine tiefgreifende Veränderung entlang der Candidate Journey stattfindet, sagt Selma Kuyas. Zumal der Fachkräftemangel in vielen Fällen hausgemacht ist. Wie sich die Spielregeln verändert haben und weshalb Unternehmen am besten mit Authentizität und Wertschätzung dem Anforderungen (potenzieller) Kandidat:innen begegnen – und wie beide Seiten in der Folge von einem unkomplizierten, effizienten Bewerbungsprozess profitieren, erklärt die Bewerbungscoach und LinkedIn Top Voice in unserer Interviewreihe „HR Expert:innen“.


Kannst du dich und dein Tätigkeitsfeld kurz vorstellen? Was ist dein Thema und das deines Blogs?

Gern. Mein Name ist Selma Kuyas. Ich war zehn Jahre im Bereich Business Operations in der Telekommunikationsbranche tätig, bevor ich 2015 den Quereinstieg als Job Coach Integration wagte. Als Job Coach lautete mein Auftrag, Jugendliche und junge Erwachsene mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Schnell bemerkte ich, dass der Bedarf in Sachen Bewerbungscoaching auch für Fach- und Führungskräfte groß ist, denn am Ende des Tages hat die Selbstpräsentation als Bewerber:in einen enormen Einfluss auf den persönlichen Karriereweg.

Auf meinem Blog teile ich mein umfangreiches Wissen als Bewerbungscoach und zweifache LinkedIn Top Voice, welches nicht auf Annahmen beruht, sondern auf meinen über die Jahre erworbenen Bewerbungsstrategien und den Erfolgen tausender Bewerber:innen, die ich in den letzten sieben Jahren als Coach begleiten durfte.

Aus deiner Sicht als Expertin und Coach: Was sind auf Bewerber:innenseite immer wiederkehrende Wünsche an Unternehmen?

Diese Wünsche lassen sich hervorragend zusammenfassen, denn sie basieren alle auf dem gleichen Fundament – der Maslowschen Bedürfnispyramide. Sie sind Spiegel unseres gesellschaftlichen Wandels, weg vom Industriezeitalter hin zum Informationszeitalter: Dabei geht es vermehrt um die Selbstverwirklichung. Sinnstiftung, Wertschätzung, faire Arbeitsbedingungen und kontinuierliche persönliche Weiterentwicklung – das sind die Hauptwünsche, die ich in meinen Umfragen zum Traumjob erhalte.

Unternehmen müssen verstehen, dass besonders die jungen Generationen, die Digital Natives, mit den zum Teil immer noch vorherrschenden Strukturen des Industriezeitalters nichts mehr anfangen können. Selbstbestimmung, die Entfaltung des eigenen Potenzials und Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben spielen eine große Rolle bei der Stellensuche der Millennials, Generation Z und der künftigen Generation Alpha.

Was müssen Unternehmen in diesem Zusammenhang heute bieten und leisten, um die passenden Bewerber:innen auf sich aufmerksam zu machen und für sich zu gewinnen?

Die Spielregeln der Rekrutierung haben sich aus verschiedenen Gründen geändert: Wir sprechen heute von einem Arbeitnehmermarkt, der sich primär digital ein Bild über den nächsten potenziellen Arbeitgeber verschafft.

Für Unternehmen bedeutet es, in den sozialen Medien und auf verschiedenen Plattformen sichtbar zu sein. Genau dort, wo sich die Wunschkandidat:innen digital in der Freizeit aufhalten. Eine authentische Social-Media-Präsenz, antistatische und ansprechende Karriereseiten sowie unkomplizierte und nicht-anonyme Touchpoints gehören mit dazu.

Damit ist es aber noch lange nicht getan: Damit echte Arbeitgeberattraktivität entstehen kann, müssen Employer-Branding-Aktivitäten – egal auf welchen Kanälen – glaubwürdig sein. Website-Texte oder Social-Media-Posts werden gerne an Marketingagenturen oder Werbetexter ausgelagert. Was aber nicht zwingend bedeutet, dass externe Auftraggeber auch authentisch und glaubwürdig zum Beispiel die Unternehmenskultur widerspiegeln. Und es ist genau diese Unternehmenskultur, die für Bewerber:innen bei der Berufsfindung eine so entscheidende Rolle einnimmt. Unternehmen tun also gut daran, zum Beispiel in Corporate-Influencer-Programme zu investieren, anstatt teure Werbekampagnen für die Rekrutierung einzusetzen.

Womit punkten Unternehmen heute bei (potenziellen) Bewerber:innen und Kandidat:innen? Welche Benefits sind für Bewerber:innen wirklich ausschlaggebend bei der Annahme eines Jobangebots – und letztlich auch in puncto Mitarbeiterzufriedenheit?

Fakt ist: Bewerber:innen mit dem Obstkorb oder Tischkicker zu locken, funktioniert heute nicht mehr. Die Pandemie hat den Finger in die offene Wunde des Arbeitsmarktes gelegt: Die Homeoffice-Pflicht und die pandemiebedingte Auseinandersetzung mit der eigenen Gesundheit und Work-Life-Balance hat bei vielen Arbeitnehmenden zu einer Welle an Selbstreflexion geführt. Was will ich von meinem Berufsleben? Wie fördert mich mein Arbeitgeber? Entsprechen die Konditionen, zu welchen ich meine Lebenszeit verkaufe, auch meinen Vorstellungen?

Nicht-monetäre Anreize spielen bei der Attraktivität von Benefits inzwischen eine viel größere Rolle, als vielen Unternehmen bewusst ist. Dazu zählen etwa ortsungebundenes Arbeiten, mehr Urlaubstage oder die Möglichkeit zur Weiterbildung während der Arbeitszeit. Aktuell gibt es laufende Studien zur 4-Tage-Arbeitswoche, welche ich sehr begrüße. Hier könnten Unternehmen eine Sogwirkung auf Top-Talente erzielen. Die Pandemie und Homeoffice-Pflicht haben gezeigt, dass wir fähig sind, mit weniger Ressourcen dieselben oder sogar noch bessere Ergebnisse zu liefern.

Mitarbeitende sind dann zufrieden, wenn sie das Gefühl haben, mit ihrer Arbeit etwas zu bewegen. Nicht nur Zahnrädchen im Getriebe zu sein, sondern Bestandteil des Steuerungselements. Gehört und gesehen werden mit ihren Ideen und ihrem Engagement.

Im Recruiting hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden – oder findet noch statt –, der besagt, dass sich Unternehmen heute bei (potenziellen) Fachkräften bewerben müssen statt, wie bisher, umgekehrt. Wie sind deine Erfahrungen damit? Ist das schon in der Unternehmenspraxis angekommen? Machen sie das?

Ich bin gegenüber dieser Aussage etwas skeptisch, denn sie lässt sich nicht auf dem Arbeitsmarkt verallgemeinern. In der Tat gibt es zahlreiche Branchen oder Jobfunktionen, die händeringend nach Talenten suchen. Besonders dort, wo Arbeitsbedingungen seit Jahrzehnten schlecht sind oder Fachexpertise Mangelware. Andererseits habe ich unglaublich viele Top-Kandidat:innen, die mich verzweifelt um Hilfe bitten, weil sie keine Stellen finden.

Die Situation seitens der Arbeitgeber wird sich weiterhin verschärfen, solange entlang des Stellenbesetzungsprozesses keine tiefgreifende Veränderung stattfindet. Ich denke da an die Altersdiskriminierung von 50+ Kandidat:innen. Oder das dringend benötige Upskilling von digitalen Kompetenzen, zum Beispiel in der Programmierung, in Digital Analytics oder Data Science. Auch sind Unternehmen (noch) nicht bereit, vermehrt in Quereinsteigerprogramme zu investieren oder Job-Sharing-Modelle einzuführen.

Der Fachkräftemangel ist aus meiner Sicht vielerorts hausgemacht und könnte mit People and Purpose over Profit abgefedert werden. Aber erklärt das mal den Aktionären. (Zwinkert.)

Beeinflusst das den Bewerbungsprozess der Zukunft? Wie sieht der aus deiner Expertinnensicht aus?

Wenn ich in meine Glaskugel sehe, könnte ich mir gut vorstellen, dass der Bewerbungsprozess 2030 komplett in die Blockchain übertragen wird.

Aber bis es so weit ist, werden Social-Media-Profile auf Plattformen wie LinkedIn hoffentlich den klassischen Lebenslauf ablösen. Es ist schlichtweg redundant, an verschiedenen Stellen die gleichen Informationen zu erfassen. Noch schlimmer sieht es aus, wenn Kandidat:innen umständliche Online-Formulare ausfüllen und zusätzlich noch einen Lebenslauf einreichen müssen, wenn doch die relevanten Informationen im LinkedIn Profil stehen.

Je unkomplizierter, wertschätzender und effizienter der Bewerbungsprozess für Kandidat:innen gestaltet wird – die gesamte Candidate Journey –, desto besser positionieren sich Unternehmen als attraktive Arbeitgeber.

Hat die klassische Stellenanzeige also ausgedient?

Aus meiner Sicht: Ja. Das Wort "Anzeige" impliziert bereits Desinteresse in der heutigen Flut von Werbebotschaften. Stellenanzeigen sind nicht nur komplett austauschbar, sondern entsprechen als Kommunikationsmittel nicht mehr der heutigen Zeit. Niemand hat Lust, einen langweiligen, ellenlangen PDF-Roman von Anforderungen zu lesen. Viel besser sind visuell ansprechend gestaltete Inserate in Form von Websites, Infografiken oder Videos. Ein rein textbasiertes PDF-Stelleninserat, das mitten ins Herz trifft und beim Leser hellste Begeisterung auslöst, habe ich persönlich noch nie gesehen.

Apropos Begeisterung: Wir beobachten, dass Potenziale und Kompetenzen, also Soft Skills, inzwischen fast wichtiger sind als starre Ausbildungs- und Erfahrungsvorgaben mit Hard Skills. Wie wichtig ist aus deiner Sicht der “Human oder Cultural Fit”, damit Bewerber:innen und Unternehmen erfolgreich und langfristig zusammenfinden?

Bevor wir vom bewerberseitigem Human oder Cultural Fit sprechen, müssen Unternehmen zuerst folgende Frage beantworten können: Ist die von der Geschäftsleitung vorgegebene Unternehmenskultur auch wirklich innerhalb des Unternehmens etabliert – und wird sie über alle Hierarchiestufen hinweg gelebt?

Erst dann ergibt es Sinn, die Rekrutierung nach passenden Soft Skills und gewünschtem Entwicklungspotenzial der Kandidat:innen auszurichten. Unternehmen, die bei der Personalauswahl das "Human" vor die "Ressource" stellen, können sich auf loyale Mitarbeitende freuen. Aber auch hier gilt: die Vorstellung, Mitarbeitende über 20 Jahre hinweg im Unternehmen zu halten, mutiert zu einem Relikt der Vergangenheit.

Was können Unternehmen von dir als Bewerbungscoach lernen?

Ich bin seit sieben Jahren als Bewerbungscoach die Verbündete von Top-Kandidat:innen. Ich weiß, was sie sich vom Bewerbungsprozess, der eigenen Karriereplanung und im Umgang mit Recruitern und dem HR wünschen. Zusätzlich verfüge ich als zweifache LinkedIn Top Voice und LinkedIn Learning Trainerin über ein tiefes Verständnis, wie das weltgrösste Business-Netzwerk dazu beitragen kann, die Schmerzpunkte beider Anspruchsgruppen – HR und Kandidat:innen – zu lösen.

Deshalb berate ich Unternehmen im Rahmen von Corporate-Influencer-Programmen oder Personal Branding Workshops für CEOs, HRler, Recruiter und Active Sourcer, wie sie mit LinkedIn schneller, kostengünstiger und passendere Fach- und Führungskräfte finden.

Kandidat:innen unterstütze ich, genau die Unternehmen und Jobs zu finden, die wirklich zu ihnen passen. Dazu eignet sich LinkedIn natürlich hervorragend, denn die Plattform ist der direkte Zugang zum verdeckten Stellenmarkt und ermöglicht Berufstätigen, eine starke Personal Brand aufzubauen.

Was kannst du Recruiting- und Personalverantwortlichen mit auf den Weg geben?

In der ganzen Euphorie über die Digitalisierung der Rekrutierungsprozesse oder des HR darf nicht vergessen werden, dass hinter jedem Lebenslauf und hinter jedem Personaldossier ein Mensch mit individuellen Bedürfnissen und seiner ganz persönlichen Geschichte steht. Daher braucht es auch im Recruiting eine Auseinandersetzung und Schärfung wichtiger Soft Skills wie etwa Empathie. Es braucht eine gendergerechte Kandidat:innen-Ansprache sowie umgesetzte Diversität und Inklusion entlang des gesamten Stellenbesetzungsprozesses und innerhalb des Unternehmens. Denn das, was viele als Buzzwords oder Trends der neuen Arbeitswelt abstempeln, ist gekommen, um zu bleiben.

Danke für deine spannenden Antworten, liebe Selma. 


Über HR Expert:innen: In regelmäßigen Abständen interviewen wir Top Expert:innen zum Thema HR, Recruiting und Employer Branding für die junge Generation. Dabei sind Journalist:innen, Blogger:innen, Podcaster:innen und Influencer:innen, die Personaler:innen für das Recruiting der Gen Z auf jeden Fall kennen sollten.